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evolutorische Ökonomik

Lehrgebäude, das dem Evolutionsgedanken vorrangig Rechnung trägt. Der evolutorische Ansatz stammt ursprünglich aus der Sozialphilosophie und hat in der Volkswirtschaftslehre eine lange Tradition. In Anbetracht der Grenzen, die den überwiegend statischen Konzepten der Ökonomik gesetzt sind, gewinnt der Evolutionsgedanke nach zunächst nur vereinzelten Neuansätzen (z.B. bei Richard B. NELSON und Sidney G. WINTER) gegenwärtig zunehmend an Anziehungskraft. Im Vordergrund steht dabei das Bestreben, den Wandel besser zu verstehen, der fortlaufend auf allen Ebenen der Wirtschaft stattfindet. Eine entscheidende Rolle spielt dabei das komplexe Phänomen der Innovation. Wo immer Evolution auftritt, beruht die Entwicklung letztlich auf dem Zusammenspiel zweier Faktoren: der Erzeugung von Neuigkeit innerhalb des betrachteten Systems und der Art und Weise, wie das System die neue Information verarbeitet und sich an sie anpaßt. Das Resultat (und die einfachste Definition dessen, was Evolution ist) ist die Selbsttransformation des betrachteten Systems. In der Wirtschaft wird Neuigkeit endogen durch Innovationstätigkeit erzeugt. Folglich müssen hier die Merkmale von Innovatoren, ihr jeweiliges Situationsverständnis, aber auch die spezifischen Umgebungsbedingungen, unter denen sie agieren, analysiert werden. Dieser Gedanke ist bereits in Joseph A. SCHUMPETERs früher Theorie bahnbrechenden Unternehmertums zu finden. Aus heutiger Sicht kommt es für das Verständnis wirtschaftlicher Evolution jedoch nicht nur auf die umwälzenden sog. Basisinnovationen an, sondern ebenso auf das alltägliche Innovationsverhalten, aus dem ein ständiger gradueller Wandel in der Wirtschaft resultiert. Innovatoren sind zumeist in Organisationen eingebunden, die Versuche, Neues einzuführen, behindern oder aber fördern können. Da Neuerungen ihrer Natur nach unberechenbare Eigenschaften haben, neigen Organisationen zur Absicherung ihrer internen Struktur häufig zu neuerungsfeindlichem Verhalten. Nur unter bestimmten Voraussetzungen wird innovatives Verhalten der Organisationsmitglieder ermutigt, (sich Überlebenschancen zu sichern, oft in Zeiten von Krisen, gewissermaßen als letztes Mittel der Organisation). Organisationsinterne Information- und Entscheidungsstrukturen haben oft auch unbeabsichtigte, aber weitreichende Konsequenzen sowohl für die Erzeugung von Neuerungen als auch für die Fähigkeit, in einer von Innovationstätigkeit geprägten Umgebung zurechtzukommen. Die Theorie hierzu steckt noch in den Anfangen (Matthias LEDER, 1989). Es ist jedoch klar, dass die herkömmliche, statische Vorstellung der Unternehmung, auf welche die Produktions- und Kostentheorie aufbaut, weder der Dynamik noch der Offenheit der Abläufe gerecht werden kann. Anstelle der Optimierung stereotyper, vordefinierter Probleme tritt die Fähigkeit zur Problemdiagnose und zum kreativen Problemlösen in den Vordergrund. Verschiedene Ansätze in der Wissenschaft experimentieren hier (auf normativer Ebene) mit den Problemlösungsstrategien, welche die Natur im Laufe der Evolution entwickelt hat, und versuchen, diese zu imitieren. Auf explikativer Ebene stößt man auf das Problem, dass Situationsverständnis und Lösungsstrategien stets auf dem unvollkommenen, subjektiven Wissen der Individuen aufbauen, das schwer zu rekonstruieren ist. Häufig läßt sich die historische Vielfalt individuellen Verhaltens deshalb nicht durch Rückführung auf allgemeine Gründe reduzieren. Für die evolutorische Ökonomik ist diese Vielfalt jedoch, anders als für die übliche, typisierende Perspektive, die sich an »repräsentativem« Verhalten orientiert, kein Manko. Eine wesentliche Ausdrucksform der Evolution ist die Veränderung in der Zusammensetzung simultan existierender Varianten (im ökonomischen Kontext: Verhaltensweisen); würde dieser Wandel zum Stillstand kommen, gäbe es keine Evolution mehr. Die relativen Häufigkeiten von Verhaltensweisen andern sich nicht nur durch Innovationstätigkeit, sondern auch dadurch, dass bestimmte Aktivitäten eliminiert werden. Soweit die Eliminierung eine Folge der in marktlichen Interaktionen wechselseitig auferlegten Beschränkungen ist (also von außen erzwungen), sind Änderungen in den relativen Häufigkeiten des Verhaltens auch ohne Kenntnis der jeweiligen subjektiven Voraussetzungen ableitbar. In letzter Instanz werden Verhaltensweisen durch Verlust ihrer wirtschaftlichen Basis (Bankrott) eliminiert: eine objektive Beschränkung der Verhaltensvielfalt. Ausschlaggebend dafür ist in einem marktwirtschaftlichen Umfeld, ob ausreichende Nettoeinnahmeströme aus Markttransaktionen erzielt werden. Bei welchen Aktivitäten von Agenten bzw. Organisationen dies der Fall ist, wird wie in der herkömmlichen Vorstellung letztlich von den Präferenzen der übrigen Marktteilnehmer bestimmt sowie von den Aktivitäten konkurrierender Agenten bzw. Organisationen. Anders als üblich betont die evolutorische Ökonomik jedoch, dass die Zusammenhänge zunächst niemandem bekannt sind, sondern stets durch die marktlichen Interaktionen als Entdeckungsverfahren (Friedrich August von HAYEK) erst in Erfahrung gebracht werden müssen. Dieser Offenbarungsprozess vermittelt dezentral Informationen über wechselseitig auferlegte Beschränkungen und induziert damit zugleich Änderung in der Zusammensetzung der beobachtbaren Verhaltensweisen. In Anlehnung an DARWINS Metapher kann man dies als ein Phänomen marktlicher Selektion auffassen. Falls sich die Verhaltensunterschiede in Kostendifferentialen niederschlagen, könnte man vermuten, dass sich die relativen Häufigkeiten durch Elimination (die auch durch Imitation erfolgreicheren Verhaltens bewirkt sein kann) jeweils zugunsten der kostengünstigeren Aktivitäten ändern, bis schließlich die Verhaltensunterschiede und mit ihnen die Kostendifferentiale abgetragen sind. Der Endzustand dieser ökonomischen natürlichen Auslese (Sidney G. WINTER) wäre also das Konkurrenzgleichgewicht. Tatsächlich müssen jedoch eine Fülle von weiteren Bedingungen durch den in Wirklichkeit sehr komplexen interaktiven Selektionsprozess erfüllt werden. Zumindest eine ist im Verständnis der evolutorischen Ökonomik systematisch nicht erfüllt: die Krisen, in die Agenten bzw. Organisationen durch relativ zu hohe Kosten geraten, führen nicht notwendig nur zur Zahlungsunfähigkeit oder der Imitation kostengünstigeren Verhaltens. Sie schaffen auch Anreize und die Bereitschaft zu Innovationen, welche die Verhaltensvielfalt wieder erhöhen. Die Theorie, dass Märkte in der Lage sind, wirtschaftliches Handeln zu koordinieren, wird dadurch bestätigt. Die allgemeine Theorie des Gleichgewichts, die beweisen möchte, dass unter gewissen Voraussetzungen alle individuellen Optima bezüglich einer vorgegebenen Problemformulierung logisch miteinander vereinbar sind, wird dafür nicht benötigt. Im Gegenteil, aus der Sicht der evolutorischen Ökonomik lenkt sie eher vom Wesentlichen ab. In einer nicht völlig innovationsfeindlichen Umgebung arbeitet der marktliche Selektionsprozess zwar darauf hin, den Koordinationsgrad zwischen den Marktteilnehmern zu erhöhen. Zugleich schafft er aber mit den Krisen, in die er die weniger gut angepaßten Marktteilnehmer stürzen kann, eine starke Triebfeder, Innovationen zu versuchen. Da diese Versuche neue Vielfalt erzeugen, wird der Koordinationsgrad durch sie gesenkt. Die Tatsache, dass simultan koordinierende und de-koordinierende Tendenzen aufgebaut werden, erklärt, wie es zu permanentem, endogen erzeugtem wirtschaftlichem Wandel kommt, der aus der Sicht der Gleichgewichtstheorie nicht zu verstehen ist. Gibt es bei Innovationen auch nur eine geringfügig höhere Erfolgsrate für bestimmte Arten von Neuerungen, dann müßte sich aus dem fortlaufenden Strom von Innovationen auf längere Sicht eine klare Richtung ergeben. Die Frage, ob eine solche Gerichtetheit im fortgesetzten wirtschaftlichen Wandel beobachtbar ist, hat hinter der auf reine Output-Vermehrung abhebenden traditionellen Wachstumstheorie lange zurückgestanden. Man kann der Frage auf verschiedenen Ebenen nachgehen, z.B. auf der Ebene institutioneller Innovationen im Wirtschaftsgeschehen, die möglicherweise einer Richtung zu stets höherer Effizienz folgen (Douglas C. NORTH). Ein ganz anderer Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass menschlicher Konsum auf Energie- und Materialverbrauch basiert. Wo der zur Aufrechterhaltung der Lebensfunktion notwendige Konsum bei zunehmender Bevölkerung nicht ausreichend gesichert erscheint, werden technische und institutionelle Neuerungen, die eine bessere Nutzung oder Erschließung von Energie und Materialien ermöglichen, eine höhere Erfolgsrate haben. Tatsächlich ist bis in die jüngste Geschichte hinein ein Innovationspfad beobachtbar, der eine immer weiter gesteigerte Energie- bzw. Materialnutzung ermöglicht hat. Wenn auch noch in den Anfängen, zeichnet sich hier ein evolutorischer Ansatz zur Analyse wirtschaftlichen Wachstums ab, in den ökologische Aspekte auf natürliche Weise Eingang finden. In den letzten Jahren haben evolutorische Konzepte v.a. deshalb vermehrt Interesse in den Wirtschaftswissenschaften gefunden, weil sie den Rückgriff auf vielversprechende formale Analyseinstrumente erlauben. Hierzu zählen die Konzepte der nichtlinearen Dynamik, die eine Schlüsselrolle in der neueren Forschung in allen Naturwissenschaften spielt, sowie die evolutionäre Spieltheorie, die aus der Biologie stammt. Evolution setzt eine Vielzahl von potentiell erreichbaren, nur lokal stabilen Gleichgewichten oder Attraktoren voraus, die die Entwicklung eine Zeitlang anziehen und in ihrem Bereich binden können. Erfolgreiche Neuerungen, Veränderungen von außen, möglicherweise aber auch die komplexe, »chaotische« Dynamik sonderbarer Attraktoren lenken die Entwicklung schließlich immer wieder in die Richtung anderer Attraktoren, so dass insges. ein offener Evolutionsprozess resultiert. Für die Ökonomik, die sich unter dem Einfluss der Gleichgewichtstheorie lange ausschließlich für eindeutige, global stabile Marktgleichgewichte interessierte, erfordert die evolutorische Sichtweise eine tiefgreifende Umorientierung. Sie ist bereits vollzogen, etwa in der Erforschung sog. »Pfadabhängigkeiten« (Paul A. DAVID). Die Entwicklung auf zukünftige Attraktoren hin wird hier als davon bestimmt angesehen, in der Nachbarschaft welcher Attraktoren sich der Prozess bereits befindet, eine Begründung für den historisch einmaligen Charakter wirtschaftlicher Abläufe. Ein anderes Beispiel sind die Forschungen zu Lock-in-Phänomenen (B. ARTHUR). Auf der Basis etwa der These steigender Skalenerträge wird hier die zunehmende Festlegung der Entwicklung auf eine unter mehreren, zunächst konkurrierenden Varianten modelliert. Das analytische Phänomen der Bifurkation, das im Hintergrund steht, ist einer unter vielen Spezialfällen, deren Untersuchung sich Modellierungen mit nichtlinearer Dynamik in der Ökonomik in zunehmendem Maße widmen (Peter WEISE, 1990). Literatur: Witt, U. (1992). Weise, P. (1990). Leder, M. (1989)

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